Ikarus “Plasma”

Masterclass Special


Auf ihrem vierten Album «Plasma» bewegen sich Ikarus vom früheren Klangtauchen hin zu einer physischeren Qualität der Musik, wie wir sie in elektronischer Tanzmusik erleben. Dies führt zu einem neuen Ikarus-Höhenflug, dessen Wendungen unberechenbar und wild wirken, trotz der präzisen und komplexen rhythmischen und harmonischen Ebenen.

Auf «Altaelva» durchläuft der rhythmische Fluss zum Beispiel die Taktarten 7/4, 6/4 und 5/4 und lebt zugleich von emotionaler Leichtigkeit und Natürlichkeit. Es zeigt sich die Erfahrung und Qualität des eingespielten Quintetts, das gleichzeitig neugierig und offen für neue Verfahren und Prozesse ist: Erstmals wurden die Songs nämlich gemeinsam auf Grund von Skizzen von Leader und Schlagzeuger Ramón Oliveras weiterentwickelt, der bisher die meisten Kompositionen selber geschrieben hat.

Im Frühjahr 2020 begann die Band mit einem intensiven individuellen und kollektiven Prozess der Ausarbeitung und mit der Reduktion aufs Wesentliche. Die Songs berücksichtigen nun die spezifischen Qualitäten aller Beteiligten. Während dieses Prozesses wählten die jeweiligen Mitglieder ihre eigenen Strategien und folgten ihren Interessen.

Sängerin Anna Hirsch konzentrierte sich auf die subtile Ausarbeitung von Melodien (zu hören beispielsweise auf «Tritium»). Pianist Lucca Fries experimentierte mit harmonischen Ideen und verfeinerte seinen an sich schon dynamischen Spielstil noch weiter. Mo Meyer suchte nach neuen Wegen, um seinen Kontrabass wie einen Bass-

Synthesizer klingen zu lassen, ohne dabei auf Effektgeräte zurückgreifen zu müssen. Und Sänger Andreas Lareida erweiterte seine bereits ausgetüftelte Stimmen-Sounds-Palette noch weiter. Improvisationen bildeten dabei einen wichtigen Teil der ersten Probephase – die Grundidee von «Cocoro» entstand gar komplett während einer besonders inspirierten Session. Pianist Lucca Freis und Komponist Ramón Oliveras arrangierten die Beiträge aller Beteiligten und verliehen den Stücken den letzten ästhetischen Schliff. Nach den Aufnahmen wurde das Material durch Jan Wagner abgemischt, der eine meisterhafte Kombination von elektronischem und akustischem Klangbild schaffte.

«Die Musik, die wir machen, lässt sich nicht von spezifischen Musikkulturen herleiten», erklärt Leader Ramón Oliveras einen weiteren zentralen Hintergedanken. «Alle fünf Mitglieder von Ikarus haben sehr individuelle Geschmäcker und als Band haben wir trotzdem eine eigene, gemeinsame fruchtbare 10-jährige Geschichte, auf die wir uns beziehen können.» Ein Beispiel dafür ist «Sessapinae». Oliveras: «Bei diesem Song könnte ich als Hörer*in Verbindungen zu einer Vielzahl Gesangstraditionen herstellen, seien sie aus Bulgarien, der Türkei, der Schweiz oder Indien – obwohl keine von ihnen eine spezifische Inspirationsquelle war. Dasselbe gilt auch für die Grooves. Wie dies erlebt wird, ist von Hörer*in zu Hörer*in unterschiedlich», sagt er und fasst wie folgt zusammen: «Die Herkunft dieses Albums ist wohl nicht zu erkennen – sie liegt in der ästhetischen Erfahrungs-Tiefe des Bandorganismus und in der Energetik des langfristigen Zusammenspiels.»

Das Album «Plasma» ist so ein Meisterstück der Band geworden, das pure Energie und Lust an der Musik und am Zusammenspiel freisetzt. Die Platte wirkt so vertraut wie frisch und anders und erzählt ein entscheidendes neues Kapitel der bemerkenswerten, sich über vier Alben erstreckenden Geschichte von Ikarus. Im Mittelpunkt stehen fünf Künstler*innen, die herausgefunden haben, wie sie ihre individuellen Stimmen beibehalten und gleichzeitig zu einer Einheit werden können. Oder poetischer: wie sie zu einer formbaren, energetischen Substanz verschmelzen.

Originaltext in Englisch von Lukasz Polowczyk